Impulse für Lieder – Alles will ich Jesus weihen

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In diesem Liedimpuls setze ich mich mit dem theologischen Hintergrund von Autoren und Übersetzern bekannter, alter Lieder auseinander…

Dieser Beitrag ist Teil 8 von 8 in der Serie Impulse für Lieder

Wir singen neue Lieder… und alte! Und das aus gutem Grund.

Gemeinde ist dort, wo Jung und Alt, Arm und Reich, Fremde und Bekannte, Sympathische und Merkwürdige im Namen unseres Herrn Jesus zusammenkommen. Und so vielfältig wie die Gemeinde, so vielfältig darf in gewissem Maße auch das Liedrepertoire sein.

Außerdem stehen wir als Gemeinde Christi in einer langen Tradition der Anbetung. Alte Lieder helfen uns, uns daran zu erinnern.

Und nicht zuletzt helfen uns Lieder aus verschiedenen Epochen und Konfessionen, theologische und stilistische Einseitigkeiten zu vermeiden.

So wichtig also eine gute Mischung im Repertoire einer Gemeinde ist, so schwierig ist manchmal die konkrete Liedauswahl. Dabei gibt es Lieder, über die man eigentlich nicht mehr diskutieren muss. Oder?

Ich glaube, das Lied „Alles will ich Jesus weihen“ gehört zu diesen christlichen Evergreens. Das Lied hat einen spannenden geschichtlichen Hintergrund, eine starke Botschaft und ein Problem in der deutschen Fassung.

Die Geschichte

Judson Van de Venter

„Das Lied wurde geschrieben, als ich eine Versammlung in East Palestine, Ohio, und im Haus von George Sebring (Gründer der Sebring Campmeeting Bible Conference . . .) leitete. Eine Zeit lang hatte ich zwischen der Entfaltung meiner Talente auf dem Gebiet der Kunst und einer Vollzeit-Evangelisationsarbeit geschwankt. Schließlich kam die entscheidende Stunde in meinem Leben, und ich gab alles auf. Ein neuer Tag wurde in mein Leben eingeläutet. Ich wurde Evangelist und entdeckte tief in meiner Seele ein mir bis dahin unbekanntes Talent. Gott hatte ein Lied in meinem Herzen verborgen, und als er eine zarte Saite berührte, brachte er mich zum Singen.“ – Judson Van de Venter

So zitiert der Hymnologe Kenneth Osbeck den Autor des Liedes. Wie man schon vermutet hat, geht dieses Lied der Hingabe tatsächlich auf eine persönliche Erfahrung im Leben des Autors zurück.

Wer war nun dieser Judson Van de Venter? 

Er wurde 1855 geboren und wuchs auf einer Farm in Michigan, USA, auf. Nach seinem Studium arbeitete er zunächst als Kunstlehrer in Pennsylvania. Neben seiner Arbeit engagierte er sich ehrenamtlich in der Methodistischen Episkopalkirche und nahm an Evangelisationsveranstaltungen teil. 

Er hatte einen starken Glauben und eine große Hingabe an den Dienst. Deshalb ermutigten ihn seine Freunde, hauptberuflich Evangelist zu werden.

Es dauerte aber noch fünf Jahre, bis er den Entschluss fasste: „Alles will ich weihen!“ Danach arbeitete er als Evangelist in den USA, England und Schottland.

Er war Teil des sogenannten „Second Great Awakening“ mit großen evangelistischen Veranstaltungen und sogenannten „Camp Meetings“, einer Mischung aus Festival und Zeltevangelisation.

Von über 60 veröffentlichten Liedern bliebt „Alles will ich Jesus weihen“ (1896) sein bekanntestes.

Die Verbreitung des Liedes

Der vielleicht wichtigste Einfluss, den Van de Venter hatte, war der auf den jungen Evangelisten Billy Graham. Rev. Graham zitierte diese Hymne als einen Einfluss in seinem frühen Dienst. Sein Bericht erscheint in Crusade Hymn Stories, herausgegeben von Grahams Chefmusiker, Cliff Barrows:

„Einer der Evangelisten, die meine frühen Predigten beeinflusst haben, war ebenfalls ein Hymnenschreiber, der „I Surrender All“ geschrieben hat – Rev. J. W. Van de Venter. Er war in den späten 1930er Jahren ein regelmäßiger Besucher des Florida Bible Institute (heute Trinity Bible College). Wir Studenten liebten diesen freundlichen, zutiefst geistlichen Herrn und trafen uns oft in seinem Winterhaus in Tampa, Florida, zu einem Abend der Gemeinschaft und des Gesangs.“

Das Besondere am Lied

Nicht nur die Entstehungsgeschichte des Liedes macht es zu etwas Besonderem, sondern auch die Art, wie es geschrieben wurde.

Es ist im Stile eines Gospelliedes oder Evangeliumsliedes geschrieben. Diese Lieder haben die Eigenschaft, die Schlüsselphrase und Hauptaussage im ganzen Lied zu Wiederholen.

Judson beginnt also jede seiner original 5 Strophen mit den Worten „All to Jesus I surrender“ (Alles will ich Jesus weihen). Im Refrain wiederholt er drei Mal „I surrender all“ (Alles will ich weih‘n), mit einem Männer-echo, das diese Aussage zwei Mal zwischen der Melodie zusätzlich wiederholt.

Die Strophen enthalten das Wort „surrender“ (weihen) dreißig Mal. Und wenn du das ganze Lied gesungen hast, wirst du das zweite Schlüsselwort „alles“ dreiundvierzig Mal gesungen haben!

Das Problem mit dem deutschen Text

Jetzt möchte ich vorsichtig den deutschen Text kritisieren den Walter Rauschenbusch (1861-1918) seinerzeit erstellte. Ich kenne diese Worte schon sehr lange, und finde sie lyrisch und poetisch sehr gelungen. Ein Meisterwerk.

Allerdings fiel mir kürzlich beim Vergleich der deutschen Übersetzung mit dem englischen Original etwas auf. Die Hauptbotschaft ist die gleiche aber der theologische Grund ist ein anderer.

Vielleicht lag es daran, dass Walter Rauschenbusch ein baptistischer Theologe war, und Judson Van de Venter ein methodistischer Evangelist. Vielleicht lag es aber auch daran, dass Walter ein Vertreter des sozialen Evangeliums war, und Judson Teil der Heiligungsbewegung.

Sie waren Zeitgenossen.

Was ist der größte Unterschied dieser beiden theologischen Bewegungen?

Eine Hauptaussage des sozialen Evangeliums ist: Die Wiederkunft des Herrn geschieht nicht eher, als dass die Menschheit die sozialen Probleme durch eigenes Bemühen überwindet. Die methodistische Erweckungsbewegung andererseits betonte stark das Wirken des Geistes zusammen mit dem Bemühen der Menschen um Heiligung und Nachfolge.

1. Strophe:

Im Deutschen singen wir
Alles will ich Jesus weihen, nichts mehr will ich nennen mein.
Leib und Seele, Gut und Habe, alles soll Sein Eigen sein.

Die deutsche erste Strophe beschränkt sich auf die Aufgabe irdischer Güter. Es lässt aber die Sehnsucht der persönlichen Beziehung aus, die im Original zu finden ist. 

Originaltext
All to Jesus, I surrender, all to Thee I freely give
I will ever love and trust You, in Your presence daily live

Insgesamt ist der Ton daher eher fordernd als einladend. Der Text sagt lediglich „gib auf!“, ohne das „wofür“ zu erklären und die Segnung dieser Hingabe zu vermitteln.

In der ersten Strophe wird die völlige Hingabe und die Sehnsucht nach der Gegenwart Gottes betont: „alles geb ich gerne hin … leb ich täglich in seiner Gegenwart.“

Meine Übersetzung:
Alles will ich Jesus weihen, alles geb‘ ich gerne hin,
Weil ich ihn von Herzen liebe, leb‘ ich jeden Tag mit ihm.

2. Strophe:

Im Deutschen singen wir:
Alles will ich Jesus weihen, all mein Herz sich zu Ihm neigt,
all mein sünd‘ger, stolzer Wille sich dem Herrn gehorsam beugt
.

Die deutsche zweite Strophe ändert die Perspektive vom Original. Statt sich den Vergnügungen der Welt zu entsagen, beugen wir unseren Willen vor dem Herrn. 

Die vertrauensvolle Bitte, die Judson kunstvoll am Ende der Strophe formuliert, fehlt völlig: „Nimm mich, Jesus, nimm mich jetzt!“

Im englischen Original verzichtet der Sänger auf „weltliche Vergnügungen“ und beugt sich demütig vor den Füßen Jesu. Die Strophe endet mit der Bitte: Jesus nimm mich jetzt an!

Originaltext:
All to Jesus I surrender, humbly at his feet I bow
Worldly pleasures all forsaken, take me, Jesus, take me now.

Mir fehlt hier das Eingeständnis der eigenen Machtlosigkeit, die im englischen Original zu finden ist. Im Deutschen singen wir: „ich will, ich neige, ich beuge“ doch es fehlt das vertrauensvolle „hilf mir, nimm mich.“

Meine Übersetzung:
Alles will ich Jesus weihen, lasse mich ganz auf ihn ein.
Breche meinen stolzen Willen, beuge mich vor meinem Herrn.

3. Strophe

Im Deutschen singen wir:
Alles will ich Jesus weihen, halte alle Welt für Spreu.
Doch was ich dem Heiland schenke, gibt Er mir verklärt und neu
.

Das hat tatsächlich mit dem Originaltext nichts mehr zu tun. Stattdessen kreiert Walter hier eine Reflexion der Themen von Strophe 1 und 2, und fügt tatsächlich noch etwas soziales Evangelium in die letzte Zeile: Mein Bemühen wird von Gott verbessert zurückgegeben.

Originaltext
All to Jesus I surrender, make me, Saviour, wholly thine:
My thy Holy Spirit fill me, my I know thy pow’r divine
.

In Strophe drei im Englischen wird darum gebetet, ganz von Jesus angenommen zu werden, den Heiligen Geist zu spüren und die Gewissheit zu haben, dass wir zu Jesus gehören.

Diese Strophe hat im Original die innigste Sprache der Beziehung mit Gott. Es geht um die Sehnsucht danach, Gottes Wirken zu erleben.

Meine Übersetzung:
Alles will ich Jesus weihen, nimm mich ganz, Herr, für dich ein.
Lass den Geist stets in mir wirken und mir sagen, ich bin dein.

4. Strophe

Walter übersetzt hier:
Alles will ich Jesus weihen, meines Geistes beste Kraft.
All mein Denken, all mein Streben, alles, was mein Tagwerk schafft.

Aufmerksamen Lesern fällt sofort auf: Hier ist Walter voll ins soziale Evangelium eingebogen.

Er hat das Lied für seine Überzeugung „gekapert“ und verlässt den theologischen Grund des ursprünglichen Textes.

Englisches Original:
All to Jesus I surrender, Lord, I give myself to thee;
fill me with thy love and power, let thy blessing fall on me.

Im Original bitten wir in der vierten Strophe um die Kraft Jesu, um erfüllt zu werden von „deiner Liebe und Kraft“ des Geistes.

Eigentlich sollten wir hier folgende Worte singen:
Alles will ich Jesus weihen, setze dich auf meinen Thron.
Schenk mir deine Kraft und Liebe, all dein Segen in mir wohn.

Der Fokus ist jetzt gar nicht mehr auf die eignen Werke, sondern auf ein von Gott befähigtes Leben in der Nachfolge.

5. Strophe

Die fünfte Strophe ist die „methodistischste“ von allen, wenn man so sagen darf:

All to Jesus, I surrender, now I feel the sacred flame;
O the joy of full salvation! Glory, glory to his name.

In direkter Übersetzung:
Alles will ich Jesus weihen, jetzt fühle ich die heilige Flamme.
Oh, welche Freude der vollkommenen Erlösung. Ehre, Ehre seinem Namen.

Dies ist eine Zusammenfassung der „Campmeetings“, die Judson selbst geleitet hat. Gottes Geist wirkt sichtbar, daher das Bild der „Flamme“. Die Menschen erleben überwältigende Freude durch ihre Bekehrung und stimmen in den Lobgesang ein.

Die fünfte Strophe ist für Judson die persönliche Konsequenz seiner Entscheidung, „ihm alles zu weihen“.

In der deutschen Fassung fehlt diese Strophe, zumindest in den mir bekannten Ausgaben. 

Ich finde das einerseits nicht verwunderlich. Wenn man sich die übrige Theologie des deutschen Textes anschaut, passt diese Strophe einfach nicht mehr ins Bild.

Andererseits ist das auch nicht sehr schlimm. Diese Strophe ist sehr biographisch und eigentlich thematisch von den anderen vier Strophen entfernt.

Meine singbare Variante:
Alles will ich Jesus weihen, dass mein Herz nur für dich brennt.
Für die Freude der Erlösung sei verherrlicht hier und jetzt.

Der Chorus

Im Chorus finde ich die deutsche Version sogar inhaltsreicher als das englische Original:

Alles will ich weih’n, dir mein Herr, mein Gott, mein Heiland, will ich alles weih’n.

Im Englischen heißt es lediglich: „nur für dich, gelobter Heiland, will ich alles weih’n.“

So packt Walter im Deutschen das komplette Bekenntnis eines Bekehrten Menschen hinein: 

Sehr schön.

Fazit

Deutsche Kernaussage: Alles will ich Jesus weihen, in dem ich mein Bestes für Gott tue.

Englische Kernaussage: Alles will ich Jesus weihen, damit Gott in mir und durch mich wirken kann.

Das ist das „Problem“, wenn man sich mit den Hintergründen und Entstehungsgeschichten von Liedern beschäftigt. Für mich war das Lied einfach „gesetzt“, bis ich mehr über die Hintergründe erfuhr.

Meine Theologie stimmt mit keinem der beiden Männer überein. Weder mit Judsons Heiligungs-Erweckungsbewegung noch mit Walters sozialem Evangelium.

Dies ist somit klarer Fall für den Bedarf einer genaueren Betrachtung des Liedes im Sinne meiner Blogreihe: „Umgang mit Liedern aus schwierigen Quellen“. Wer hätte gedacht, dass das auch bei den alten Evergreens nötig sein würde?

Was mache ich jetzt? Nun, zum einen habe ich eine Übersetzung angefertigt, die dem Originaltext zumindest nahekommt. Das war ich Judson schuldig.

Und was ist mit dem Text von Walter, den wir seit über 150 Jahren singen? Ich habe keine Illusionen darüber, dass sich mein Text durchsetzen wird. Wir werden den Text wahrscheinlich weiterhin so singen, wie wir ihn schon immer kennen.

Nur werde ich vielleicht in der Moderation des Liedes etwas mehr auf das „Warum“ der Hingabe eingehen, auch wenn das im deutschen Lied leider fehlt.

Was würdest du tun, wenn du das alles jetzt weißt?

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